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Die EU verstehen (Fortsetzung)




Beispiel 2 zur Souveränität

Wie der griechische Ort Ioannina berühmt wurde


Die „Politik des leeren Stuhls“ und der daraus entstandene Kompromiss haben sogar, man möchte es nicht glauben, eine lang andauernde Fortsetzung mit Variationen. Zu Beginn des Jahres 1994 waren Finnland, Österreich und Schweden der EU beigetreten, nun waren 15 Staaten Mitglied. Die Entscheidungen im Rat wurden mit qualifizierter Mehrheit getroffen; dieses Verfahren ermöglicht es kleinen Staaten, nicht von den Großen überstimmt zu werden. Ein großer EU-Staat hat, was ja durchaus als gerecht anzusehen ist, mehr Stimmen als ein kleiner1. Für eine Mehrheit ist aber eine solche Anzahl von Stimmen nötig, dass kleine Staaten, wenn sie genügend Partner finden, Beschlüsse verhindern können. Sie verfügen dann zusammen über eine Sperrminorität. Diese lag vor Beitritt der drei neuen Staaten bei 23 Stimmen und war nun durch die Beitrittsverträge auf 26 erhöht worden. Das war einigen der großen Staaten, allen voran Spanien, zu viel der Rücksicht auf die Kleinen. Madrid fürchtete, dass nun öfters als bisher Beschlüsse verhindert werden konnten, sah seine nationale Einflussmacht geschmälert und forderte, es müsse bei der alten Regelung bleiben (23 Nein-Stimmen bilden die Sperr-Minorität).
Nun war die Erfindungskraft der Minister gefragt. Sie tagten als Rat am 29. März 1994 auf der griechischen Insel Korfu in einem Ort namens Ioannina. Und die 15 Damen und Herren kamen zu folgender Lösung: Die Anzahl der Stimmen, die zum Scheitern einer Gesetzesvorlage nötig sind, wird, wie vereinbart, auf 26 erhöht. Wenn nun aber bei der Abstimmung Staaten mit insgesamt 23 bis 25 Stimmen Nein sagen, ist der Beschluss noch nicht gefasst. Es muss nun weiter verhandelt werden, bis die Anzahl der Nein- Stimmen auf 23 oder weniger sinkt. Damit war Spanien vorerst beruhigt. Es ging aber weiter.
Die Frage der Stimmengewichtung im Rat sollte bei der nächsten Änderung des Gründungsvertrags geklärt werden. Eine solche Änderung können nur die Mitgliedstaaten beschließen, und zwar einstimmig2. Die Verhandlungen dazu begannen im März 1996, der neue „Vertrag von Amsterdam“ konnte am 1. Mai 1999 in Kraft treten. Aber über die Stimmgewichtung konnten die 15 Staaten sich wieder nicht einigen. Spanien war nicht einverstanden, jetzt weniger Stimmen zu haben (nämlich 8) als Frankreich oder Italien (10). Es blieb beim Kompromiss von Ioannina. Eine Einigung wurde aber immer dringender nötig, weil nach dem Fall der Mauer und dem Zerfall der Sowjetunion viele der neuen Staaten des ehemaligen Ostblocks in die EU drängten. Also gaben die Mitgliedstaaten sich die Aufgabe, diese Frage vor dem Beitritt weiterer Staaten zu klären3.
Die Verhandlungen der Regierungskonferenz über die erneute Vertragsänderung dauerten zehn Monate4. Die Frage der Stimmengewichtung blieb aber bis zur letzten Nachtsitzung umstritten. Und wieder wurde nur ein Kompromiss gefunden5: Die Stimmengewichtung wurde erheblich gespreizt. Die vier großen Staaten6 hatten nun je 29 statt 10 Stimmen, Spanien 27 statt 8. Damit war ihr Abstand im Stimmengewicht von 1 : 1,25 auf 1 : 1,07 geschrumpft. Aber damit nicht genug: Man fand noch einen Weg, um die großen Staaten davor zu bewahren, von den vielen kleinen Staaten7i überstimmt zu werden. Wenn bei einer Abstimmung eine qualifizierte Mehrheit Ja sagt, kann ein Staat beantragen, dass geprüft wird, ob die Ja-Sager zusammen mindestens 62 Prozent der Gesamtbevölkerung der Union8 haben. Ist das nicht der Fall, kommt der Beschluss nicht zustande.
Das Fatale an diesen Unzulänglichkeiten ist, dass sie der EU als Ganzes (also „Brüssel“) angelastet werden, während nicht die Union, sondern die Regierungen einiger ihrer Mitgliedstaaten die Schuldigen sind. Es ist freilich wohlfeil, den Kleinmut der Staats- und Regierungschefs zu tadeln. Sie, die vielleicht für sich die Richtigkeit und Wichtigkeit solcher Beschlussfassung erkannt haben, stehen in ihrem Land oft genug in der heftigen Kritik der Oppositionsparteien, der mächtigen Interessengruppen (Arbeitgeber, Gewerkschaften, Verbände) und großer Teile der Wählerschaft, die durch Medien („BILD dir deine Meinung!“) mitunter gegen anstehende Mehrheitsentscheidungen geradezu aufgehetzt werden.
Es kommt noch etwas hinzu: Mit der Zeit sind die Gegenstände, worüber Beschlüsse zu fassen sind, immer komplexer geworden, ihre Wirkungen und Nebenwirkungen werden nur noch von Experten erkannt und durchschaut. Die Minister sind vor der Entscheidung auf Beratung und Expertise von Fachleuten angewiesen, was in der Öffentlichkeit leicht als Beeinflussung durch Lobbyisten dargestellt werden kann. Die Sachverhalte der Gesetzentwürfe sind zudem oft von solcher Art, dass offensichtliche Vorteile durch mögliche Nebenwirkungen beeinträchtigt werden können. Kritiker, die eigene Interessen vertreten, haben es daher leicht, unter Hinweis auf solche Nebenwirkungen in der Öffentlichkeit Gehör zu finden.

 

1Dieses Verfahren galt nur bis 2017. Große Staaten wie Deutschland, Frankreich, Großbritannien oder Italien hatten je 10 Stimmen, kleinere entsprechend weniger, Belgien z.B. 5, Dänemark 3, Luxemburg 2. Insgesamt hatten die damals 15 Mitgliedstaaten 87 Stimmen, zur qualifizierten Mehrheit waren 62 Stimmen nötig, Staaten mit zusammen 26 Stimmen konnten einen Beschluss verhindern (sog. Sperrminorität). Seit 2017 hat jeder Mitgliedstaat einheitlich eine Stimme. Dann bedarf es für die Beschlussfassung einer doppelten Mehrheit: Mindestens 55 % der Mitgliedstaaten mit mindestens 65 % der Bevölkerung
2 Damals war der Maastrichter Vertrag von 1992 (in Kraft seit 1. 11. 1993) gültig. Änderungen des Vertrags mussten von allen Mitgliedstaaten genehmigt (ratifiziert) werden (Art. N EUV Maastricht). Dies gilt für Vertragsänderungen auch heute noch (Art. 48 Abs. 4 EUV)
3 In einer dem Vertrag von Amsterdam beigefügten Erklärung Nr. 50 heißt es: Es wird vereinbart, dass die Geltungsdauer des Beschlusses des Rates vom 29. März 1994 („Ioannina-Kompromiss“) bis zum Zeitpunkt des Inkrafttretens der ersten Erweiterung verlängert wird und dass bis zu diesem Zeitpunkt eine Lösung für den Sonderfall Spanien gefunden wird
4 Vom Mitte Februar bis Anfang Dezember 2000. Die Staats- und Regierungschefs tagten dreimal, um die strittigen Fragen auf höchster Ebene zu klären (im Juni in Santa Maria da Feira (Portugal), im Oktober in Biarritz (Frankreich) und abschließend im Dezember in Nizza
5 Im Vertrag von Nizza, der am 1. Februar 2003 in Kraft getreten ist. Darin wird zunächst (in Art. 205 EGV) die Stimmenverteilung aus dem Vorgänger (Vertrag von Amsterdam) bestätigt, im „Protokoll über die Erweiterung der EU“ wird jedoch in Art. 3 die Gesamtstimmenzahl im Rat ab 1.1.2005 erheblich vergrößert (auf 237 für 15 Mitgliedstaaten). Für die Zeit nach der Erweiterung sollten die dann 25 Mitgliedstaaten ab 11. November 2004 über insgesamt 321 Stimmen verfügen (Sperrminorität bei 90 Stimmen) Die Stimmen der vier großen Mitgliedstaaten wuchsen von je 10 auf je 29, Spanien erhielt 27 Stimmen, die kleinsten Staaten Luxemurg und Zypern je 4
6 Deutschland, Frankreich, Großbritannien und Italien
7 Von den 27 Mitgliedstaaten der EU (Stand 2021) haben 19 höchstens 10 Millionen Einwohner, davon neun weniger als fünf Millionen und drei weniger als eine Million. Deutschland als größter Staat hat rund 83 Millionen Einwohner
8 Die sechs großen Staaten der EU haben zusammen 70 % aller Einwohner, im Rat aber nur 48 % der Stimmen. Sie können allein also keinen Beschluss fassen. Dagegen können die 22 kleineren Staaten, die zusammen nur 30 % der Gesamtbevölkerung haben, einen Beschluss fassen, wenn sie nur zwei große Staaten als Mitstimmer gewinnen

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