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„geformtes holz“

herausgegeben von der Wegra-Verlagsgesellschaft in Stuttgart zum 50-jährigen Bestehen der Firma August Sommer in Plüderhausen, 1962

Text Claus D. Grupp


Über den Sitz und das Sitzen

Form und Verhaltensweise zwischen Prestige und Funktion


Der Stuhl – und seine Spielarten – ist das bevorzugte Objekt des Möbeldesigns. Architekten, Medi­ziner, Kunstgewerbler und Gewerbekünstler entwerfen, konstruieren, theoretisieren die Formen, die Materialien der Sitzmöbel; jeder nach seinem Ziel, nach seiner Herkunft. Das Ergebnis ähnelt hier einem Heilgerät, da einem Kunstwerk, manchmal auch beidem zugleich.


Der Stuhl, einst mit Form und Dekor überladen, ist heute überladen mit erdachten Aufgaben, mit den Ambitionen der Entwerfer. Nicht immer entstehen sie aus der Beachtung der heute differenzier­ten Sitzgewohnheiten, nicht immer entsprechen sie den veränderten Produktions-techniken. Solche Aufgabe erscheint zu gering. Das Ziel ist ein neuer Stil, wenn es nach der Ambition, oder eine neue Mode, wenn es nach der Konfektion geht. Diese Erscheinung ist nicht neu. Auch in Zeiten vor uns wurden „Stile“ gesucht, erdacht, konstruiert, wurden Möbelmoden kreiert; spätestens nach Ludwig XIV. Neu ist heute, bei der Suche nach dem Stil, die Flucht vor den Stilen, die Furcht vor der Imita­tion, vor dem Einfluss des Vorbildes. Meist ist diese Flucht vor den Stilen nur vorgeblich, immer vergeblich. Opas Stil wird für tot erklärt, und mit der Leiche wird heimlich Nekrophilie getrieben. Mit welch erfrischender Unbeküm-mertheit griffen sie da vorzeiten in die Wundertüte der Antike, holten hier ein Akanthusblättchen und immer wieder eines, da ein Säulchen und Kapitellchen dori­scher, ionischer oder korinthischer Ordnung, dort etliche Karyatiden, geflügelte Jupiter-Blitze, Füll­hörner und Liktorenbündel hervor; sie klebten komplette Tempelgiebel und Hausfassaden an die Möbel. Aber sie ahmten ehrlich nach, aufrichtig, mit Begeisterung, ohne sich dessen zu schämen; sie imitierten unverschämt.


Der Stil, den wir ihnen im Nachhinein zuordnen, dem wir sie unterordnen, entstand durchaus nicht stets aus einem „Muss“, wuchs nicht, entsprang nicht immer – und mit wachsender Kraft des Bür­gertums immer seltener – „dem objektiven Geist einer allgemeinen Lebenshaltung“. Er ist oft genug ein „Soll“ gewesen. Das Leben ahmt die Kunst weit mehr nach als die Kunst das Leben, fand Oscar Wilde.


Aber Nachahmung ist heute verpönt. Die Sucht nach dem Neuen, dem Unbeeinflussten – zum Dog­ma erhoben –diese Jagd nach einem Schemen bindet die Kräfte. Alles muss echt sein, original, ur­sprünglich: Die Originalität des echten Kunstleders.


Daneben stehen so vage Forderungen wie: die Form muss materialgerecht sein. Was heißt schon materialgerecht? Und wo hört die Gerechtigkeit gegenüber dem Material auf? Ist es noch material­gerecht, das Holz, wo es sich nicht mehr im Ganzen formen lässt, papierdünn zu zersägen, zusam­men zu leimen und in Schablonen zu pressen? Wäre es noch materialgerecht, das Holz – „das doch draußen im Walde gewachsen ist“ – zu pulverisieren, als Brei anzurühren und wie Beton zu vergie­ßen? – Der Begriff des Materialgerechten ist zeitgebunden. Einem Kritiker, hätte es ihn damals ge­geben, wäre wohl auch der erste eiserne Nagel im Holz ein Dorn im Auge gewesen. Neue Werkzeu­ge, neue Verarbeitungsverfahren haben den Bereich dessen, was als materialgerecht angesehen wer­den kann, immer vergrößert: Der Hammer, die Säge, die erste Drehbank, die erste Sägemühle, der Hobel, das Turniermesser, das Biegeband, der Kaltleim – sie alle haben der Holzverarbeitung neue Wege gewiesen und Formen ermöglicht, die – im strengsten Sinne – nicht materialgerecht waren, oder besser: es nicht gewesen wären, wenn ein Kritiker den Maßstab des Materialgerechten in der jeweiligen Norm angelegt hätte. Doch: wo liegt der Unterschied in der Gerechtigkeit gegenüber dem Material, ob das Holz durch Zersägen oder durch Zerspanen oder Pulverisieren zerkleinert wird?


In der modernen Produktion können techno-romantische, unpräzise Verstellungen wie „mate-rialge­recht“ keinen Ehrenplatz mehr haben, geschweige denn als Leitbild dienen. In der Serie bestimmen nicht nur der Rohstoff, sondern auch das Werkzeug, die Rentabilität, die technischen Daten die Grenzen der Verarbeitung. Neue Werkzeuge, neue Verfahren haben diese Grenzen immer weiter hinausgeschoben. Sie haben die Formen der Möbel nachhaltiger geprägt als etwa der Umstand, dass Napoleon in Ägypten war, dass Winckelmann die Archäologie entdeckte, dass Pompeji ausgegraben wurde oder Ernst Haeckel „Kunstformen der Natur“ fand.


Die Kunstgeschichte aber, mit ihrer Einteilung nach Stilen, schätzt nur diese hochwohlgeborenen Einflüsse und vernachlässigt die Frage nach dem Material, nach dem Werkzeug, nach der Konstruk­tion. Dieses Botaniker-Verfahren – Friedrich Naumann verglich die übliche Darstellung der Stilar­ten treffend mit der Pflanzeneinteilung Linnés – misst nur die Dekors, zählt die Triglyphen, ver­gleicht die Perlstäbe, katalogisiert die Flora und Fauna, die sich auf den Möbeln ausbreitet, und lei­tet Verwandtschaften aus der Zahl der Staubgefäße ab. Daraus, unter anderem, erklärt sich die Rat­losigkeit der Literatur angesichts der heutigen Möbel- und Stuhlformen, an denen es keine Staubge­fäße zu zählen gibt; eine Ratlosigkeit, die sich hinter Verlegenheits-Begriffen wie „Polystilie“ ver­steckt.


Die Frage nach dem Möbelstil unserer Zeit ist rhetorisch, wenn der Begriff Stil behängt und beengt ist wie ein Museum, wenn nicht bedacht wird, dass sich in der Technik und in der Form des menschlichen Zusammenlebens in den letzten 150 Jahren einiges geändert hat. Denn Stil – in dem Sinne, in dem der Begriff heute meist noch gebraucht wird – ist seinem Wesen nach aristokratisch, entstand aus dem Zusammenspiel zwischen Macht und Unterwerfung, zwischen Institution und Dis­ziplin. Die Stile verringerten sich zu Moden, als diese Beziehungen an fruchtbarer Spannung verlo­ren, als sie sich darauf beschränkten, dass aufstrebende Klassen gesellschaftlichen Vorbildern nach­eiferten. Das 18., 19. und 20. Jahrhundert geben reichlich Beispiele, die zusehends rascher wechsel­ten – was weniger auf schnelleren Verschleiß der gesellschaftlichen Vorbilder als auf gesteigerten Bedarf zurückzuführen ist und auf wachsende Möglichkeiten der Produktion, die nach Auslastung der Kapazität drängten. Im Missverstehen und Missbrauch dieser Möglichkeiten liegt ein Grund für die Scheußlichkeiten, die Monstrositäten und Abnormitäten in Holz, den Kitsch und die „Pseudosti­lie“, die sich auf vielen Möbeln und vor allem auf Stühlen als modern anpreisen. Die technischen Möglichkeiten der Serienfertigung stellen eben nicht einfach eine Potenzierung der handwerklichen Fertigung dar, die Maschine ist kein multiplizierter Handwerker. Das Serienprodukt ist Anfang, nicht Schlusspunkt einer Entwicklung.


Die Linie vorn ersten Artefakte herstellenden Urmenschen über den Universal-Handwerker zum Zimmermann, der – auf Holz spezialisiert – Häuser und Möbel baut, diese Linie, die weiterführt über den Möbelschreiner, der sich im späten Mittelalter vom Zimmermann trennt, und der dann – seine handwerkliche Fertigkeit zur Kunstfertigkeit führend – im Barock und Rokoko an den franzö­sischen Höfen zum Ebenisten, zum Künstler wurde, diese Linie führt nicht zur maschinellen Ferti­gung. Die Maschine, einst verbessertes Hand-Werkzeug, wurde selbst Ausgangspunkt divergieren­der, sich verästelnder Linien. Die fortschreitende Spezialisierung des Handwerks hat mit der Be­schränkung auf das Einzelprodukt, den Stuhl etwa, seine Grenze erreicht. Der Handwerker, der sich weiter spezialisiert – auf Einzelteile des Stuhles zum Beispiel – begibt sich der wesentlichsten Merkmale handwerklicher Fertigung. Die Serienfertigung aber beginnt erst bei der Spezialisierung auf Einzelteile, auf Normteile, die, aus gleichem Material und in gleicher Form, nur in den Maßen variierend für möglichst viele Endprodukte verwendet werden können.


Der differenzierte Massenbedarf zwingt zur Vielfalt der Formen, die moderne Produktion aber zwingt zur großen Serie, zur Beschränkung auf möglichst wenige Grundelemente. Auf-gabe des Entwerfers ist es, aus diesen wenigen seriengemäßen Grundelementen vielfältige Variationen zu schaffen. Die Individualität des Entwurfs liegt nicht in der Veränderung der Grundelemente, son­dern in der Kombination der unveränderten Grundelemente zu guten Formen. Der moderne Desi­gner muss beim Entwurf die technischen Gegebenheiten der Serienproduktion beachten; für ihn ist nicht mehr – wie einst für den Handwerker – Holz, sondern das seriengefertigte Grundelement der Rohstoff, aus dem das Produkt zu formen ist.


Die Unterschiede zwischen handwerklicher Verarbeitung und Serienfertigung sind so wesentlich, dass nicht das eine für das andere der Maßstab sein kann. Die Serienfertigung hat kein Vorbild im Handwerk; sie hat ihre eigenen Daten, ihre eigenen, nur für sie geltenden Maßstäbe.


Wer in Serien produziert, soll den Kanon des Handwerks vergessen. Dieser Kanon forderte die un­geteilte individuelle Kontrolle über alle Arbeitsgänge vom Rohstoff bis zum Endprodukt. Die Seri­enfertigung fordert Arbeitsteilung. Die Unterschiede sind groß und bekannt. Aber man schämt sich ihrer noch. Das sichere Spiel mit den technischen Möglichkeiten lässt noch auf sich warten.


1

Der Mensch sitzt, weil er steht – seit er steht. Erst nachdem er sich aufgerichtet hatte, musste er sich setzen. Kein vierbeiniges Tier sucht sich einen Sitz, der aus der Standebene herausragt. Der Quadro­pede knickt sein hinteres Beinpaar und hockt, wo er eben stand. Was aber veranlasste den tertiären Urmenschen, der sich auf zwei Beine erhoben hatte, den erhöhten Sitz zu wählen? Geltungsstreben, Wille zur bewussten Unterscheidung vom hockenden Tier, vom niedrigeren Wesen, war es gewiss nicht, ebenso wenig der Wunsch, die neue Errungenschaft, den senkrechten Rumpf, auch im Sitzen zu bewahren. Wahrscheinlich konnte der Urmensch, bevor er stehen konnte, aufrecht hocken. In­dem er sich aber auf einen kniehohen Stein, auf einen gestürzten Baumstamm setzte, verkürzte er unbewusst die Bewegungen, die Körperveränderungen zwischen Sitzen und Stehen auf ein Min­destmaß. Das begünstigte schnelles Auf-stehen, schnelles Fliehen. Zunächst war es wohl Zufall, wenn er einen geeigneten Stein gerade da und dann fand, wo und wann er sich setzen wollte, später war es bewusstes Suchen.


Das Aufrichten, das Stehen und Gehen auf zwei Füßen – ein widernatürliches Verhalten: der frei­willige Übergang vom stabilen zum labilen Gleichgewicht – verlangt bewusste Kraftanstrengung, verlangt Erholung, Rückkehr zum stabilen Gleichgewicht: der aufrecht Gehende braucht den Sitz, den erhöhten Sitz.


Das Sitzen war dem Menschen zuerst Ruhe, Erholung von anstrengender Bewegung. Dieser ur­sprüngliche Zweck des Sitzens bleibt über alle Jahrtausende, Jahrhunderttausende erhalten, diffe­renziert, verfeinert sich, bestimmt die Form der Sitzgeräte, zunächst wenigstens, bis diese autonom werden, sich selbständig machen und nun ihrerseits die Formen des Sitzens prägen.


Ein zweiter ursprünglicher Zweck des Sitzens geriet indes ins Dunkel, verlor seinen Sinn, je mehr der Mensch sich der Umwelt gegenüber zu behaupten wusste. Nur die Wurzeln der Sprache deuten noch darauf: Sitzen war Geborgenheit, Sicherheit, war Schutz im Versteck, in der Behausung. (Ste­hen und Gehen dagegen, die aktive, ruhelose Haltung, waren gleichbedeutend mit Gefahr). Der Übergang zum aufrechten Stehen brachte dem Menschen wohl den Vorteil der Hirnvergrößerung; das Gehen auf zwei Füßen benachteiligte den Menschen aber gegenüber den Tieren. Der bipede Aufrechtgänger, nur auf den hinteren Extremitäten sich bewegend, konnte nicht mehr so rasch flie­hen, wie der Vierbeiner ihn verfolgte, und er verlernte das behände Klettern. Er gebrauchte – zufäl­lig zunächst – künstliche Waffen – Knüppel, Steine – und bewirkte damit die Rückbildung seiner natürlichen Waffen, der scharfen Eckzähne im voluminösen, muskulösen Unterkiefer, der greifen­den Fußfinger.


Diese gewichtigen Nachteile des Aufrechtgehens vermochte der Urmensch zunächst wohl zum Teil auszugleichen: durch die Herstellung von Artefakten, von Werkzeugen. Trotzdem: der Mensch muss in den etlich hunderttausend Generationen, da er das Gehen lernte, das schwächste und schutzloses­te Lebewesen seiner Größenordnung gewesen sein. Beim Aufrichten ragte der fliehstirnige Schädel unserer potentiellen Vorfahren über die Bodenvegetation, die Steppengräser hinaus. Stehen und Ge­hen waren gefährliche Aktivität. Sitzen und Liegen dagegen bedeuteten Geborgenheit, Sicherheit im Schutz hoher Gräser, einer Baumgruppe, einer Behausung.


Die Sprache hat diesen Unterschied erhalten und weitergebildet: das Wort Nest, Sinnbild der Gebor­genheit, und das Wort sitzen haben dieselbe Wurzel. Der indogermanische Verbalstamm ‚sec!' (= sich setzen, sitzen) bildete zusammen mit der indogermanischen, im Altindischen bewahrten Ver­balpartikel ,ni` (= nieder) die Form nizdos (= Niederlassung), im Altindischen ,nida` (= Lagerstätte für Tiere, Nest). Nach der germanischen Lautverschiebung wurde aus der Form ,nizdo-` das seit dem Althochdeutschen unveränderte Nest. Im Armenischen heißt „nist“ heute noch so viel wie Lage, Sitz. Im Germanischen, Keltischen, Italienischen und Baltoslawischen verengte sich dagegen die Bedeutung von Nest = Sitz, Niederlassung zu Nest = Vogelnest, zuerst wohl nur bei Jägern und Vogelstellern, dann allgemein. Ob die sinnbildliche und auch bildsinnliche Bedeutung von ,Nest' sich trotzdem erhielt oder ob sie erst später, begünstigt durch natur-romantische, ornitophile Vorstel­lungen aufgepropft wurde? Jedenfalls: die heute sinnbildliche Bedeutung von ‚Nest' erhält oder er­hellt den ursprünglichen Wortsinn.


Überraschend ist eine Analogie im Ägyptischen: die Hieroglyphe „bet“, ein Rechteck, bedeutete ur­sprünglich Sitz, Thronsitz; später erweiterte sich die Bedeutung zu Haus, Behausung, Schutz. Unser Wort wohnen hieß in seinen frühen Formen soviel wie „zufrieden sein, unbekümmert, sorglos“. Un­sere Sprache bewahrt hier in ihren Wurzeln, in ihren späteren Differenzierungen die uralte Vorstel­lung von sitzen, das Schutz, Sicherheit und Geborgenheit bedeutet.


Die Etymologie berührt sich mit der Anthropogenie, urmenschliches Verhalten ist in der Sprache konserviert. Das althochdeutsche „sizzen“, das den indogermanischen Stamm „sed“, germanisch „set“, nicht verleugnet, bildet im Mittelhochdeutschen die heutige Form sitzen. Wortbildungen aus diesem Verb und dem entsprechenden Bewirkungszeitwort setzen, oft aus neuester Zeit und biswei­len ohne offensichtlichen Bezug auf das Grundwort, spiegeln verschiedene Verhaltensformen des Sitzens wider: Besitz, Satz, Satzung, Gesetz, Vorsitz. Als Mitbedeutungen lassen sich „Sicherheit, Schutz“, in zweiter Linie auch „Rang, Rangfolge, Repräsentation“ ableiten. Ohne ursächliche Zu­sammenhänge konstruieren zu wollen, wo sie nicht bestehen: die Analogien zwischen den Sekun­därbedeutungen dieser Wörter und den differenzierten Formen und Bedeutungen des Sitzens sind auffällig, als hätten ungeschriebene Gesetze des Sitzens über natürliche und zeitliche Grenzen ge­wirkt und die Sprache geregelt.


Ein Beispiel noch zuletzt: Vorsitz bezeichnet eine ranghöchste Stellung, bezeichnet Repräsentation nach außen; der Vorsitzer – Goethe hat das Wort aus dem Holländischen in seinen Egmont über­nommen – ist zumindest der primus inter pares. Vorstand dagegen bezeichnet weniger einen Rang, als eine auszuübende Tätigkeit. Zum Stehen gehört das Gehen, die körperliche Betätigung, die Akti­vität. Stehen und Gehen, althochdeutsch sten und gen, sind Reimwortbildungen. Sitzen aber ist Ruhe, „Gesetztheit“, Würde. Die Spielarten des Sitzens haben sich, mit ihren feinen Unterscheidun­gen, in der Sprache festgesetzt.


2

Das erste Sitzgerät war der Natursitz, ein Steinblock, ein gestürzter Baum, zweckgebunden durch einen darauf sitzenden Menschen, freilich nur zeitweilig, sitzweilig. Es wurde nicht mitgenommen, nicht transportiert, war nicht beweglich, nicht mobil – es war noch kein Möbel. Dem umherziehen­den Menschen ist der Hausrat lästig. Erst der sesshafte – der am Sitz haftende – Mensch brauchte und schuf „Möbel“: den Tisch, den Sitz und das Lager.


Ein kniehoher Stein, wenn nötig roh behauen, dürftig geglättet, an eine Höhlenwand gerückt, das mag die erste von Menschen geschaffene Form eines Sitzgerätes vor mehreren hundert-tausend Jah­ren gewesen sein. Eine perfekte Lösung übrigens. Alle Merkmale, die einen Stuhl kennzeichnen, sind in dem aus natürlichen Elementen zusammengesetzten Sitz vereint: die waagerechte Sitzfläche in einer bestimmten, feststehenden Höhe und die senkrechte Rücken-lehne. Alles, was später mit dem Stuhl geschieht, sind Variationen dieses Themas, in Stein, in Holz, in Metall. Die Grundele­mente bleiben, werden wohl verfeinert, ergänzt, berechnet, werden auf veränderte Weise zusam­mengefügt. Technisch gesehen mögen die Änderungen zum Teil tiefgreifend, revolutionär gewesen sein. Der ursprüngliche Zweck des Sitzens – die Erholung, die Bequemlichkeit – wird dadurch nur graduell, nicht grundlegend besser erfüllt. Der Steinsitz vor 100 000 Jahren und der gepolsterte Oh­rensessel aus unseren Tagen unterscheiden sich nur in den Stufen ihres Komforts. Bis in die Neuzeit kam der geringste Teil der Mühen, die an den Stuhl gewandt wurden, der Bequemlichkeit zugute. Erst seit 300 Jahren etwa wirken sich die Ansprüche an die Bequemlichkeit in den Formen aus: In der Régence, zu Beginn des 18. Jahrhunderts, zwischen dem 14. und dem 15. Ludwig, wird die Commodité, das bequeme Wohnen in Frankreich groß geschrieben. Das Sitzen ist eine so elementa­re Erscheinung, dass es nicht verwundern kann, wenn die ursprüngliche und einzig dauernde Funk­tion des Sitzgerätes von Anfang an eine Selbstverständlichkeit war, die bis in neueste Zeit nie zur Diskussion stand. Diese selbstverständliche, dem Sitzgerät immanente Funktion geriet nie in Ver­gessenheit, sie konnte nie in Vergessenheit geraten, da sie über Jahrtausende nicht in das Bewusst­sein gerückt war. Bis in die neueste Zeit hinein richtete der Mensch sein Augenmerk so wenig auf diese Funktion des Sitzgerätes wie etwa auf den Vitamingehalt seiner Nahrung. Der Mensch verfei­nerte seine Speisen, seine Essgewohnheiten, variierte und vergrößerte seine Speisenkarte nicht, weil er vor der Notwendigkeit stand, sich besser, ausreichender oder gesünder zu ernähren. Er verfeiner­te, variierte seine Küche nicht damit, sondern weil er sich aus-reichend ernähren konnte. Den ele­mentaren Hunger ergänzte der sekundäre Appetit.


Die Geschichte des Sitzmöbels wäre eine alltägliche, blutleere Chronologie, hätte diese ursprüngli­che und wesentliche Funktion allein die Form des Sitzgerätes bestimmt, hätten Wan-del in der Wahl des Materials, Entwicklung der Werkzeuge und – in neuester Zeit – anatomisch-physiologische Er­kenntnisse allein die technischen Daten gesetzt. Blutleer und ohne Spannung – das ist nicht abwer­tend gemeint. Auch die Genealogie des Regenwurms hat ihre Höhepunkte – für den Fachmann. Und eben auf den Eifer des Fachmannes, des Möbelexperten, würde sich das Interesse beschränken, das die geschichtlichen Stuhlformen verdienen, hätten sie eine solch keimfreie Entwicklung hinter sich. Aber der Stammbaum des Stuhles ist nicht rein. Leider – wenn wir an die Überwucherungen, an die Überladungen und Verfremdungen der Formen denken, die nach mehrtausendjähriger Entwicklung so etwas wie Funktionalismus notwendig erscheinen ließen; aber: Gott sei Dank – wenn wir die Vielfalt des Ausdrucks betrachten, den uns Stühle aus allen Zeiten vermitteln. Dass der Stuhl nicht allein Zweckgegenstand blieb, dass er Schmuck, dass er Mittel der Repräsentation und beliebtes Objekt der Moden wurde, macht ihn zum Dokument nicht nur fortschreitender handwerklicher und technischer Fertigkeit, sondern überdies zum Zeitdokument, zum Leitfaden einer recht intimen Ge­schichte der Menschheit, die wohl nicht immer so ereignisreich, aber oft so aufschlussreich und nie so lärmend-militant ist, wie die große prachtledergebundene Historie.


3

Die Differenzierung der Sitzgewohnheiten hatte als formprägender Faktor zu verschiedenen Epo­chen nicht unerheblichen Einfluss auf die Gestaltung der Sitzmöbel. Man kann es auch anders sa­gen:

Wenn ich sitze, will ich nicht

sitzen, wie mein Sitzfleisch möchte,

sondern wie mein Sitzgeist sich, säße er, den Stuhl sich flöchte.


Christian Morgenstern hat mit diesen Zeilen jedem Verfasser einer „Geschichte der Stühle“ dreisei­tenlange Erläuterungen erspart. Morgenstern ist Fachmann – im Sitzen, und als solcher kompetent, über Stühle und Sitzgewohnheiten zu urteilen wie ein Gourmet über ein gutes Essen, auch wenn er dessen Ingredienzien nicht alle kennt.


Das Sitzfleisch, der Sodex, war zuerst, ohne Zweifel; die Elementarfunktion des Stuhles pass-te sich ihm an. Aber der Sitzgeist erhob sich bald, forderte Rechte, eigene Formen, und bekam sie, manch­mal auf Kosten der Bequemlichkeit. Der Sitzgeist wurde stark; er verlangte nach Repräsentation, nach Differenzierung. Das Sitzen, so selbstverständlich notwendig wie Essen und Schlafen, wurde schon in frühgeschichtlicher Zeit zur sekundären Erscheinung, blieb nicht Ursache, sondern wurde Abbild einer Haltung, wurde selbst zur Funktion. Das Sitzen wurde bald zum soziologischen Merk­mal, diente der Unterscheidung des Höhergestellten vom Niederen. Das setzt einiges voraus: eine Gesellschaftsordnung mit ausgeprägten Rangunterschieden oder eine Religionsgemeinschaft mit an­tropomorphen Götterbildern und dem Glauben an lebendige Gott-Vertreter, ein zentralisiertes Kul­turleben mit dem Herrscherhof oder dem Tempel als Mittelpunkt, eine weitgehende Arbeitsteilung, die eine konzentrische Staffelung der Gesellschaftsschichten von der schlanken Spitze des Zen­trums und seiner nächsten Umgebung zur breiten Basis der niederen Schicht ergibt, außerdem eine ausgeprägte handwerklich-künstlerische Fertigkeit, die den Willen zur Repräsentation in materielle Formen kleiden kann.


Diese Voraussetzungen waren zuerst – in der uns überlieferten Geschichte wenigstens – im Ägypten der frühen Dynastien und in der frühdynastischen Zeit Babylons gegeben, zuletzt – schon verfallend und nur mit Mühe noch zusammengehalten – am Hofe des dritten Napoleon.


Eine solche Konstellation ist wie geschaffen für das Pathos. Im ersten Überschwang, auf dem Weg zum ersten raschen Höhepunkt schwappt das Pathos leicht ins Kolossale über: Monumentalität be­eindruckt das staunende Volk immer wieder, im alten Ägypten wie in Rom, im Kaiserreich Napole­ons wie im Reich Hitlers und in der Sowjetunion.

Die bevorzugte Form der äußerlichen Repräsentation ist zunächst das Symmetrische, Geometrische, Rechteckig-Steife, das optisch Harte, das sich auf dem Höhepunkt und in der Dekadenz verfeinert, verweichlicht, zum Spielerisch-Leichten und zuletzt zum Asymmetrisch-Wirren neigt.


In der bevorzugten Haltung unterscheiden sich die Machthaber. Der revolutionäre Diktator braucht die aktive Haltung: er agiert im Stehen; der stabilisierte Herrscher zeigt sich in zeitloser Majestät, ohne das vergängliche Attribut der Bewegung: er sitzt, er thront. Überlieferungen aus Ägypten und Babylon zeigen erste Beispiele für Rangordnungen im Sitzen. Die voll-endet ausgeprägten Formen der Sitz-Repräsentation auf diesen Darstellungen lassen vermuten, dass sich Rangunterscheidungen im und durch das Sitzen und das Sitzgerät schon in früherer Zeit, vor den ersten Staatenbildungen, in den matriarchalischen und patriarchalischen Sippen-und Stammesformen, ausgebildet hatten.


In Ägypten formte sich früh – schon während der ersten Dynastien – eine Art Kanon für die darstel­lende Kunst: Kinder, Dienstboten und Personen geringerer Würde wurden fast aus-schließlich han­delnd, in Aktivität dargestellt; der Hochgestellte dagegen, allen voran der Pharao, durfte nur in ma­jestätischer Haltung, ohne Attribut der Vergänglichkeit abgebildet werden.


Beispiele sind uns überliefert: der tiefäugige König Djoser aus der dritten Dynastie um 2600 v. Chr., dessen zylindergestaltiges Sitzbild heute im Ägyptischen Museum zu Kairo steht, ebenso die ku­bisch-wuchtigmajestätische Gestalt des sitzenden Pharao Chephren und das imposant-klobige Ko­lossal-Sitzbild Amenophis III. und seiner Frau Teje. Im Tempelbezirk des Gottes Monthu bei Kar­nak fand man ein Relief, das den dritten Sesostris aus der zwölften Dynastie in spiegelbildlicher Symmetrie einmal mit der Krone Unterägyptens, das andere Mal mit der Krone Oberägyptens präsentiert, sitzend auf einem mäßig verzierten, majestätischen, aber doch wohl unbequemen würfelförmigen Hocker. An der Spitze des gestürzten Obelisken der Königin Hatschepsut in Karnak ist ein Relief eingegraben, das – rund 400 Jahre nach dem Sesostris-Andenken entstanden – aufs Haar genau den gleichen kubischen Hocker zeigt, mit knapper zwanzig Zentimeter-Rückenlehne, über die ein dickes Tuch hängt, das wohl auch die Sitzfläche bedeckte. Das wohl bekannteste Beispiel sitzender Majestäten des alten Ägypten ist aber die gigantomanische Ramses-Schau an der Fassade des Felsentempels in Abu-Simbel. Nach all dieser Ehrfurcht heischenden Monumentalität wirkt das Relief aus Amarna, das heute im Staatlichen Museum in Berlin ist, erlösend-erheiternd: es zeigt Amenophis IV. mit seiner Gattin Nofretete, ihre Töchter herzend. Amenophis sitzt auf einem schmucklosen, aber geradezu als zierlich anzusprechenden, verstrebten Hocker, Nofretete auf einem etwas reicher gezierten Sitz; beide haben dicke Polster lose auf die Sitzflächen gelegt und einen ebenso dick gepolsterten Schemel unter den Füßen.


Minderwürdige Personen dagegen werden stehend, handelnd gezeigt: so in den Modellen einer Bä­ckerei, Brauerei und eines Reisebootes aus dem Grab des Hofbeamten Meketre aus der II. Dynastie (Metropolitan Museum of Art, New York) oder in den Darstellungen eines Geflügelhofes und einer Tischlerwerkstatt auf Grabreliefs in Sakkara (V. Dynastie).


Auch aus dem Babylon der frühen Dynastien, etwa ab 2800 v. Chr., finden sich Beispiele für diese Beweiskette: in den Kulträumen der Tempel in Nordbabylonien standen auf Banketten an den Längswänden steinerne Adoranten, fünfzehn bis fünfundsiebzig Zentimeter hohe Statuetten von Männern und Frauen in Gebetshaltung, die so – wenigstens im Symbol – dauernd anbetend vor ir­gendeinem Überirdischen aus der umfangreichen Götterliste stehen konnten. Nur wenige sitzende Adoranten fand man dabei. Offensichtlich durften nur Fürsten im Angesicht der Gottheit sitzen.


Kam aber der Gott mit auf das Bild, so musste selbst der König stehen: Ein bruchstückweise erhal­tenes Relief einer Stele aus Ur, heute im University Museum in Philadelphia, zeigt den König Ur­nammu, wie er stehend den sitzenden Mondgott Nanna verehrt. Ähnlich ein Relief auf der berühm­ten Gesetzesstele des Hammurabi im Louvre: der König steht vor dem sitzen-den Sonnengott Scha­masch.


Das ungeschriebene Gesetz, das sich in all diesen Darstellungen ausdrückt (der Höhergestellte, Ed­lere sitzt vor dem Niederen), hat seine Analogien, mutatis mutandis, in anderer Zeit, am anderen Ort: in Asien in den sitzenden Buddhafiguren, im Abendland in bildlichen Darstel-lungen Gott-Va­ters oder seines auferstandenen Sohnes. In dem Hans Memling zugeschriebenen „Weltgericht mit klugen und törichten Jungfrauen“, früher am Altar der Danziger Marienkirche, thront Christus am Himmel auf einem Regenbogen, die Erdkugel als Schemel benützend. Ebenso sitzt die Muttergottes in den meisten Madonnendarstellungen von der Romanik bis hin zu Salvador Dali.


Und ein im Brauch bis heute bewahrtes Überbleibsel an diese Vorstellungen vom würde-gemäßen Sitzen: die Dame erhebt sich nicht, wenn der Herr, sofern er nicht König des Landes oder ihres Her­zens ist, sie begrüßt. Ein Sprung zurück über 10 000 Jahre: im Neolithikum formte der Bauer aus Ton sitzende Frauenfiguren, Fruchtbarkeitsidole.

Dass jenes eigentümlich-erholsame Zurechtbiegen des menschlichen Körpers in die rechtwinklige Form eines Treppenabsatzes, das wir Sitzen nennen, schon im alten Ägypten zur bewussten Aus­zeichnung diente, zeigen literarische Zeugnisse. Der Herrscher verstreute die Gunst, mit ihm am Ti­sche sitzen zu dürfen, sorgsam und mit Bedacht. Ptahhotep, ein Hofbeamter aus der Zeit der V. ägyptischen Dynastie, mahnt denn auch in seinem Unterweisungsbuch: „So du einer von denen bist, die an der Tafel eines Höhergestellten sitzen, nimm, was er dir geben mag, wenn es dir vor die Nase gesetzt wird. Blicke auf das, was vor dir ist; durch-dringe ihn nicht mit vielen Blicken ... Lass dein Antlitz hängen, bis er sich an dich wendet, und du sollst reden, wenn er sich an dich wendet. Lache, wenn er lacht .. .“ und so weiter. Notabene: Ptahhoteps Fibel für Beamte ist über 4000 Jahre alt.


Die theoretische Untermauerung für diese Anweisungen zur Charakterlosigkeit lieferte später – vor genau 1000 Jahren – der byzantinische Kaiser und Geschichtsschreiber Konstantin VII. Porphyro­gennotes, der Erfinder des Byzantinismus. In seiner Hof-Zeremonienordnung „De ceremoniis aulae byzantinae“ konstruiert der Porphyrogennotes: Da Gott die Rangunterschiede unter den Menschen und auch unter den Vornehmen geschaffen habe, so müsse es ihm wohlgefällig sein, wenn man die Unterschiede einhalte und festlege, wer vor wem vorangehe, wer hinter wem einhergehe, wer über wem zu Tische sitze und wer sich untenan setze, ja, wer überhaupt zu Tische sitze und wer dabei stehe. Von da bis zu Bismarcks freimütig-selbstbewusstem „Wo ich sitze ist immer oben“ führt ein weiter Weg.


Homer für die Griechen, Aemilius Paullus und Plutarch für die Römer überlieferten uns Sitzordnun­gen aus der hochentwickelten gesellschaftlichen Kultur der Antike. Nein, nicht Sitzordnungen, son­dern rangordnende Lagepläne. Man pflegte in der Antike – orientalisch beeinflusst – bei Gastmäh­lern und Gelagen in einer halbaufgerichteten Sitzlage, im Liegesitz, zu ruhen. Das Essen wurde, auf kleinen Tischchen, vor das Lager gestellt. Unser Wort Tisch erinnert noch daran: das althochdeut­sche „tisc“ bedeutete Tisch und Schüssel zugleich; auch der germanische Tisch war nur eine kleine Holzplatte, auf ein Gestell gelegt, die gleichzeitig als Ess-Schüssel diente und nach der Mahlzeit weggeräumt wurde.


War das Sitzen nicht mehr würde-gerecht, dass der Griechen- und Römerheld das Lager dem Sitz vorzog? Durchaus nicht. Der Thronos, der Ehrenstuhl des griechischen Hausherren, blieb dem Eh­rengast immer noch als besondere Auszeichnung vorbehalten – bei kurzen Empfängen. Als die lis­tenreiche Athene in der Gestalt Mentors, des Lehrers, den blühenden Jüngling Telemachos besucht, lässt der Sprössling Homers seinen Gast auf des Vaters Thronos sitzen und lagert sich selbst an ihrer Seite auf einen Klismos; Penelope, die Hausherrin, liegt auf dem Ruhebett, der mit Elfenbein und Silber verzierten Kline. Das thronende Sitzen hat nichts von der Würde, der Ehre aus ägyptischer Zeit verloren. Aber: das repräsentative Gestühl des Griechen muss wohl für längeres Sitzen recht unbequem gewesen sein. Die Gastmähler jedoch erstreckten sich über gewaltige Zeitlängen. Der Wunsch zur gesteigerten Bequemlichkeit schlug sich nicht in verbesserten Stühlen nieder, sondern erfüllte sich im lässigen Liegesitz. Das setzt freiere Lebensformen voraus, als sie im alten Ägypten und noch im sechsten vor-christlichen Jahrhundert in Griechenland geherrscht hatten.


Die darstellende Kunst belegt die Lockerung der Sitten: die Götter auf dem Fries des delphischen Schatzhauses der Siphnier, die heroisierten Toten auf spartanischen Grabreliefs, auf dem Harpyien-Monument aus Xantos und auf anderen Beispielen aus der vorklassischen, archaischen Kunst sitzen streng, steif, unbewegt. Leben und Kunst waren stark an Religion und Polis gebunden. Die Sitzhal­tung entspricht den streng architektonisch gebauten Armlehnsesseln mit hoher Rückenlehne. Im 5. Jahrhundert beginnt die Kritik am überkommenen Götter-glauben. Die Grenzen, die räumlichen und sittlichen, erweitern sich, die politisch-religiöse Bindung wird lockerer, der Gemeinschaft steht das freie Individuum gegenüber, die Haltung wird ungebunden. Die eleganten Stühle der attischen und hellenistischen Zeit, mit den geschweiften Beinen, der stark geneigten Rückenlehne und dem ge­schwungenen Kopfstück erlaubten – wie die Sitten – das ungezwungene, bewegte, lässige Sitzen. Zwei-, dreihundert Jahre zuvor wären die Formen dieses klassischen Stuhles nicht nur deplatziert, sondern undenkbar gewesen. Der neue Sitzgeist hatte sie sich geflochten.


Lässiges Sitzen mit ausgestreckten Beinen, die Füße auf einem Schemel: von da ist es nur ein Schritt zur Sitzlage auf der weichgepolsterten Kline, die Beine lang gestreckt, den Oberkörper halb aufgerichtet, gestützt auf den linken Ellenbogen, in der rechten, frei beweglichen Hand das Glas oder anderes, des Greifens Wertes ... Die Sitten und das Sitzen waren eben lockerer geworden.


Die Ehefrau war den Gelagen übrigens fern. Sie bediente allenfalls. Da das Sitzen zum Sitz-liegen avanciert war, gebührte der Ehefrau, wie den Kindern, in der Rangfolge des Sitzens der Stuhl; der einfache Diphros, ein Klappstuhl, in der ärmeren Familie; der Schemel oder der Stuhl mit Rücken­lehne bei den Begüterten. Die Bank, das –nicht qualitativ, sondern repräsentativ – minderwertigste Sitzmöbel, blieb den Sklaven vorbehalten. Die Bank, der Gemeinschaftssitz, ist dem Individualisten ein Gräuel. (Auch das ausgeprägte Individualgefühl der Renaissance verdammt die Bank, das wich­tige Möbel der Romanik und Gotik, wieder in die untersten gesellschaftlichen Regionen.)

Ein Sprung in die Neuzeit: Das 18. Jahrhundert bringt, eine Nummer größer, eine Reprise dieser Entwicklung der Sitzformen. „Heutzutage sind die Sitten einheitlicher; die Canapés und Chaiselon­gues werden von den Damen benutzt, ohne dass das in der Gesellschaft Verwirrung stiftet“, schreibt Voltaire. Voraus ging das strenge Zeremoniell, die Hofetiquette, die unter Louis XIV. ihren grotes­ken Höhepunkt erreichte. Die Briefe der Madame de Sevigné, der Lieselotte von der Pfalz, die Me­moiren des Herzogs von Saint-Simon, das Tagebuch des Marquis de Dangeau legen Zeugnis davon ab. Die Rangfolge der Stühle als Mittel der äußerlichen Repräsentation war nie zuvor so streng hier­archisch gestaffelt gewesen: ganz tief stehen die Ployants, die Klappstühle, darüber die Tabourets, die Hocker; es folgen die Stühle mit Rückenlehne und schließlich, an der Spitze, die Fauteuils mit Rücken- und Armlehnen. Sitzhöhen und Höhen der Rückenlehnen waren unterschiedlich; der Rang des Sitzenden maß sich an den Zentimetern der Lehne. Das Protokoll am großen und mehr noch an den kleinen Höfen markierte die Zentimeter für jeden Anwesenden. Eifersuchtsszenen, Streite, Intri­gen entspannen sich um die Sitzmöbel, Staatsbesuche scheiterten daran, wenn nicht Kompromisse gefunden wurden wie beim Besuch der Kurfürstin Sophie von Hannover bei der Gattin Ludwigs XIV.: das Feilschen um Lehnen und Zentimeter, die langwierigen Verhandlungen – welcher Stuhl für welche Dame? – führten zu keiner Einigung. Die beiden erlauchten Damen begegneten einander stehend.


Mit dem Tode des vierzehnten Ludwig kam die Wende. Die Aufklärung dämmerte. Das Zeremoni­ell, die Bindung an den Hof, die Sitten lockerten sich, der freie Geist war das Ideal. Auch der Sitz­geist – bleiben wir bei dem Morgenstern‘schen Ausdruck – wurde freier, wie im fünften vorchristli­chen Jahrhundert in Griechenland: Die Armlehnstühle, unter Louis XIII. rechteckig, steif, unbe­quem, unter Ludwig XIV. massig, monumental, mit symmetrischem Dekor, hoch, geschaffen für Menschen, die riesenhafte Perücken tragen und auf hohen Absätzen gehen (Moliere besaß 22 sol­cher Möbel), diese Fauteuils werden nun im 18. Jahrhundert kleiner, niedriger, geschmeidiger, be­quemer, weniger feierlich, die Dekors vermeiden die Symmetrie.


Man gibt sich nonchalant im aufgeklärten Absolutismus und man sitzt nonchalant. Voltaire passt nicht in einen Louis-XIV.-Sessel. Die Armlehnen der Fauteuils werden verkürzt, damit auch die Da­men in ihren modischen, ausladenden Reifröcken, ohne Komplikationen sich set-zen und aufstehen können. Sitzliegen und Liegemöbel werden beliebt: die Chaiselongue, im Grunde – wie der Name schon sagt – nichts anderes als eine Chaise, eine Bergère mit verlängerter Sitzfläche; die Duchesse mit einer Lehne am Fußende, entstanden aus der Kombination zweier Bergèren, zwischen die zur Verlängerung ein Hocker eingeschoben wurde; das Canapé, das, statt in die Länge, in die Breite ging (zwei nebeneinandergestellte Fauteuils) und die Ottomane, die „Türkische“. Eine beispiellose Variationsbreite, die sich im gängigen Ausdruck des 18. Jahrhunderts zusammenfassen lässt: Lotter­bett, Faulbett. Das Sitzliegen, unter Louis XIV. dem König und wenigen Erlesenen vorbehalten, war nun allgemein verbreitet. Das griechische Vorbild, was Sitzgewohnheit anbelangt, war – unbewusst und ungewollt –im Rokoko erreicht; wie gesagt, eine Nummer größer, moderner. In der Folge machten sich antike Formen und Dekors wieder auf den Möbeln breit.


Wir haben zwei von ähnlichen Punkten ausgehende Entwicklungslinien der Sitzgewohnheiten und der entsprechenden Formen der Sitzmöbel gefunden: die Zeit zwischen archaischer und hellenisti­scher Kultur in Griechenland und die Zeit zwischen Höhepunkt des Absolutismus und Rokoko. Bei­de Male – stark vereinfacht gesagt – die Entwicklung vom Strengen, Gebun-denen zum Weichen, Ungebundenen; vom Anonymen, Konventionellen zum Subjektiven, Individuellen; vom Architektonischen, Rechtwinkligen zum Dekorativen, Geschwungenen; vom Zwang zur relativen Freiheit; vom – notabene, was das Sitzen anbelangt – Unbequemen zum Bequemen.

Zurück zur Antike. Blicken wir von der Spitze der ägyptischen Pyramiden über die berühmten vier Jahrtausende bis zu Napoleon Bonaparte: In diesem gewaltigen Zeitraum haben sich die angedeute­ten Entwicklungen insgesamt fünfmal wiederholt, nicht immer so ausgeprägt wie in unseren beiden Musterfällen Griechenland und Absolutismus, aber immer erkennbar. Fünfmal wiederholten sich in der Geschichte des Stuhles die rechtwinkligen, steifen, repräsentativen, architektonischen, patheti­schen Formen: im alten Ägypten, im archaischen Griechenland, in der Gotik, im Höhepunkt des Absolutismus und im Empire.


Wiederholten sich die Form-Merkmale zufällig? Oder entspricht der Ähnlichkeit der Stuhl-formen eine Ähnlichkeit des Sitzgeistes, des Zeitgeistes? In allen fünf genannten Epochen finden wir eine starke Bindung von Kunst und Leben: in Ägypten die Bindung an den Pharao als Gott und Staats­macht, im vorklassischen Griechenland an Religion und Polis, in der Gotik an die Religion allein, im Absolutismus an den königlichen Hof, im Empire an die kaiserliche Macht. Das Empire greift auf Ägypten zurück – Napoleon hat nicht umsonst unter den Pyramiden gestanden – aber ein Kreis schließt sich deshalb nicht. Im Gegenteil: die Linie bricht sich in der Optik des 18. Jahrhunderts, zerstreut sich in nebeneinander laufende divergierende Linien.


Das Empire ist deshalb – in mancher Hinsicht – aus dieser Reihe auszuklammern: mit dem Rokoko schon begannen die Stile in Moden überzufließen. Das Empire ist vollends auf dem Reißbrett ent­standen. Man holte aus dem Reservoir der Antike, was herauszuholen ist. Mahagoni wurde zum be­liebtesten Holz; Stühle und Tischchen wurden oft weiß lackiert: das Dunkle, die sinnliche Pracht, und das Weiße, die asketische Pracht. Aber nichts ist echt, alles ist Äußerlichkeit, ist Schau. Nicht zufällig erfand das Empire den Wohnzimmer-Glasschrank und die internationalen Möbelausstellun­gen. Zum ersten Mal drang der „Stil“ als Mode in alle Häuser; der Geschmack war nivelliert; jeder wollte wohnen wie sein Nachbar. Die ersten Mode-Zeitschriften erschienen und beschäftigten sich mit Wohnungs-Einrichtungen, stellten Leitbilder auf. Das Mobiliar sank auf das Niveau der Tex­tilmoden. Der Verzicht auf die Individualität im Empire ist aber nicht zu vergleichen mit dem Kol­lektiv etwa der Gotik. Die Gemeinsamkeit im Empire beschränkte sich darauf, dass jedermann den gleichen schlechten Geschmack, die gleiche Urteilslosigkeit hatte wie sein Nachbar, dass jeder den anderen nach-ahmen und, wo möglich, übertreffen wollte. Und das sind allemal die besten Voraus­setzungen für grassierende Moden.






Fortsetzung in Teil 2