Hauptnavigation


Seiten-Inhalt

Die EU verstehen (Fortsetzung)




Beispiel 3 zur Souveränität

Das EP, die eigenartige Versammlung


Das Europäische Parlament (EP), im Anfang eine machtlose Versammlung, ist ein bestimmendes Organ der EU geworden. Diese Entwicklung ist ein weiteres typisches Beispiel für die Vorsicht, mit der die Regierungen der Staaten sich dem vertraglich vereinbarten Ziel näherten, Machtbefugnisse auf übernationale Organe zu übertragen. Auch diese Entwicklung gab Anlass und Grund für harsche Kritik, sowohl aus den Reihen der nationalen Parlamente als auch aus dem EP. Eine andere, raschere Entwicklung wäre denkbar und im Idealfall auch realisierbar gewesen. Aber dazu fehlte den Regierungen der Mitgliedstaaten der Mut, den die Gründer der Gemeinschaft einst von ihnen erwartet hatten.

Im Gründungsvertrag von 1957 hatten die Regierungen der sechs Staaten1 festgelegt, dass die Gemeinschaft ein Parlament haben sollte2. Es durfte jedoch nicht gleich Parlament heißen, um der Kritik vorzubeugen, es könne sich um eine Einrichtung handeln, die einem nationalen Parlament ähnlich sei und vergleichbare Rechte hätte. Versammlung war ihre Bezeichnung, die einfach von der schon 1951 gegründeten Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS) übernommen wurde. Die Abgeordneten wurden nicht gewählt, sondern waren Mitglieder der nationalen Parlamente, die nach Straßburg entsandt wurden3. Sie polierten ihr geringes öffentliches Ansehen auf, indem sie ihre Versammlung vom ersten Tag an „Europäische Parlamentarische Versammlung“ und ab 1962 „Europäisches Parlament“ nannten. In die Verträge wurde diese Bezeichnung erst viel später übernommen4.

Die Versammlung hatte beratende Funktion, und wer die Sprache der Politik versteht, weiß, was „beratend“ heißt: Die Abgeordneten durften zwar reden, hatten aber nichts zu sagen. Die Versammlung konnte im Anhörungsverfahren Stellungnahmen zu Gesetzentwürfen der Gemeinschaft abgeben. Die Minister der Regierungen, die allein darüber entscheiden konnten, mussten diese Stellungnahmen zur Kenntnis, aber nicht ernst nehmen, wenn sie ihnen nicht passten. Aus dieser Zeit hat sich die Vorstellung von der machtlosen Quasselbude in Straßburg bei manchen Kritikern bis in unsere Tage erhalten.

Für jeden wesentlichen Schritt der Integration5, der über das schon Vereinbarte hinausgeht, muss der Gründungsvertrag geändert werden. Das geschieht durch einen neuen Vertrag6. Den handeln die Regierungen der Mitgliedstaaten untereinander aus, in Jahre dauernden Versuchen, unterschiedliche Vorstellungen auszugleichen, und beschließen ihn einstimmig. Und dieser neue Vertrag muss wieder von allen Mitgliedstaaten ratifiziert, also von den nationalen Parlamenten genehmigt werden7. Das galt auch für den Fall, dass der Versammlung in Straßburg größere Befugnisse erteilt werden sollten, und zwar Befugnisse, die zwangsläufig die Rechte der nationalen Parlamente einschränkten, jener Parlamente also, deren Zustimmung dafür unbedingt notwendig war. Eine Konstellation fast wie in griechischen Tragödien (aus der Antike, nicht aus heutiger Zeit)!

Die Gründer wussten, dass ihre Europäische Gemeinschaft demokratische Grundsätze beachten musste, wenn sie Hoheitsrechte der Staaten übernahm und ausübte. Sie wussten, dass dies eines Tages dazu führen musste, einem Europäischen Parlament im Bereich gemeinsamer Politik alle Rechte einzuräumen, die ein Parlament in einem demokratischen Staat hat. Aber sie wussten ebenso, dass dies nicht auf einen Schlag geschehen konnte, sondern nur Schritt um Schritt, sozusagen nach der Methode „trial and error8: Erwies sich ein Schritt als gelungen, konnte der nächste versucht werden, erwies er sich als Fehler, musste es möglich sein, ihn rückgängig zu machen.

Dreißig Jahre lang, von 1958 bis 1987, hatte das Parlament im Wesentlichen nur diese eine beratende Funktion. Die Abgeordneten aber forderten weitergehende Rechte, vor allem ab 1975, als der Haushalt der Gemeinschaft vollständig aus eigenen Mitteln finanziert wurde9. Aber die Mitgliedstaaten konnten sich wieder nur auf einen Minimalkonsens einigen: Sie änderten am 4. März 1975 das Anhörungsverfahren in der Gesetzgebung in einer Gemeinsamen Erklärung10 so geringfügig, dass der Gründungsvertrag dafür nicht geändert werden musste: „Konzertierungsverfahren“ hieß nun die neue Form der Zusammenarbeit zwischen Rat und EP. Die Parlamentarier stimmten zähneknirschend zu, den Spatz in der Hand der Taube auf dem Dach vorziehend. Neu war nun: Das Parlament konnte einen Gesetzentwurf mit „ins Gewicht fallenden finanziellen Auswirkungen“ ändern. Dazu wurde ein Ausschuss gebildet aus dem Rat und Mitgliedern des Parlaments. Er sollte in höchstens drei Monaten einen Kompromiss zwischen den unterschiedlichen Standpunkten finden. Wenn das gelang, konnte das Parlament seine Stellungnahme dem Kompromiss anpassen. Danach beschloss der Rat endgültig. Kam es nicht zur Einigung, war der Gesetzentwurf gescheitert.

Erst Mitte 1975 kamen die Regierungen den drängenden Forderungen der Parlamentarier nach und erweiterten deren Haushalts-Befugnisse so, dass eigentlich der Gründungsvertrag von 1957 hätte geändert werden müssen. Aber sie fanden wieder eine Lösung, die es ihnen ersparte, diesen schwierigen und mit der Möglichkeit des Scheiterns verbundenen Weg zu gehen. Sie schlossen untereinander einen völkerrechtlichen Vertrag11und erlaubten darin dem Parlament neue Rechte in Bezug auf den Haushalt der Gemeinschaft. Das EP konnte nun den Entwurf des Haushaltsplans abändern oder gar ablehnen. Klingt nach großem Sprung nach vorn, aber auch hier ist das „Kleingedruckte“ zu beachten. Abändern durfte das Parlament nur die „nicht-obligatorischen“ Ausgabenposten im Haushaltsentwurf, bei allen anderen Ausgaben, „die sich zwingend aus dem Vertrag oder den auf Grund des Vertrages erlassenen Rechtsakten ergeben“12, durfte das Parlament Änderungen weiterhin nur vorschlagen. Und diese obligatorischen Ausgaben machten damals mehr als drei Viertel des gesamten Haushalts aus.

Im Juni 1979 wurden die Abgeordneten des EP erstmals direkt gewählt13 von den Wahlberechtigten in den damals neun Mitgliedstaaten14. Erstmals waren die Abgeordneten nun unmittelbar demokratisch legitimiert zur Mitarbeit an der europäischen Gesetzgebung. Dies hat ihr Selbstbewusstsein erheblich gestärkt, aber nicht gleich auch ihre Rechte.

Erst 1987, nach zwei Legislaturperioden des gewählten Parlaments, wurden dem EP weitere Rechte in der allgemeinen Gesetzgebung zugestanden, und zwar in der ersten umfangreichen Änderung des Gründungsvertrags der EWG15. Neu war nun das Verfahren der Zusammenarbeit16für Gesetzentwürfe in einigen Politikbereichen: Neu war nun die Einführung einer zweiten Lesung im Gesetzgebungsverfahren. Wenn die Parlamentarier in einer zweiten Lesung die Änderungen des Rates aus dessen erster Lesung ablehnten, kam ein Gesetz nur zustande, wenn die Regierungen im Rat in ihrer zweiten Lesung zur Einstimmigkeit fanden. Und da dies unter nun zwölf Regierungen immer häufiger nicht erreicht wurde, konnte das Parlament eine Ratsentscheidung unter Umständen sogar verhindern. Ein erster Schritt. Viel zu klein nach Ansicht der Parlamentarier; sie konnten nun zwar erstmals an der Gesetzgebung mitwirken, aber immer noch nicht mitentscheiden. Viel zu weitgreifend nach Ansicht derjenigen Mitgliedstaaten, die „Europa“ möglichst machtlos halten wollten.

199317, also 36 Jahre nach Gründung der Gemeinschaft, erteilten die Mitgliedstaaten dem EP erstmals das Recht, bei Gesetzentwürfen in einigen Politikbereichen tatsächlich entscheidend mitzumachen18. Die Parlamentarier konnten nun Gesetzentwürfe endgültig ablehnen. Wieder war dafür eine Änderung des Gründungsvertrags nötig: der Vertrag von Maastricht. Vielleicht erinnert sich jemand: In Deutschland gab es eine Verfassungsklage gegen diesen Vertrag, in Dänemark wurde der Vertrag in einem Referendum von einer Mehrheit der Wahlbeteiligten abgelehnt. Der Maastrichter Vertrag konnte nur mit anderthalbjähriger Verspätung in Kraft treten, nachdem Dänemark und Großbritannien Sonderrechte19 eingeräumt worden waren. Viele Kritiker, die den Maastrichter Vertrag und die Stärkung des EP damals als Teufelszeug verdammten, haben später den Mangel an demokratischer Legitimation in der europäischen Gesetzgebung moniert.

Seit 1. Dezember 2009 gilt nun der Vertrag von Lissabon, die fünfte Änderung des Gründungsvertrags von 1957. Und nun ist das Europäische Parlament in der gemeinschaftlichen Gesetzgebung endlich gleichberechtigt mit dem Rat der Minister, hat das Recht, bei allen Gesetzentwürfen mitzuentscheiden und den gesamten Haushaltsplan der EU zu genehmigen oder abzulehnen. Die Parlamentarier in Straßburg haben endlich, worum sie jahrzehntelang gekämpft haben. Und die nationalen Parlamente? Sie erkennen allmählich mit wachsendem Erschrecken, dass die Stärkung des Europäischen Parlaments ihre eigene Schwächung zur Folge haben kann20.

Und nun? Ist diese zögerliche Entwicklung der Befugnisse des EP ein Trauerspiel der Politik, wie viele Kritiker behaupten? Oder ist es ein Zeichen dafür, dass Vernunft sich am Ende doch durchsetzen kann, aber dafür einen langen Atem braucht? Jedenfalls zeigt dieses Beispiel, dass Kritik an der EU in vielen Fällen nicht von Fehlern oder einer Fehlkonstruktion der Union ausgelöst wird, sondern vom zögerlichen Verhalten der nationalen Regierungen und ihren unterschiedlichen Vorstellungen davon, wie viel Macht sie der Union zugestehen wollen. Aber jede Kritik bezieht das Publikum (die Öffentlichkeit) eben auf „Brüssel“, nicht auf die Politiker in Berlin, Rom oder Paris. Und fatalerweise stimmen die meisten Politiker in den Regierungen der Mitgliedstaaten in die Kritik über „Brüssel“ mit ein, weil sie hoffen, so von ihrem eigenen Versagen ablenken zu können.

1 Neben Deutschland waren das Frankreich, Italien und die drei Benelux-Länder.

2 Art. 137 ff. EWGV

3 Art. 138 Abs. 1 EWGV

4 1987 in Art. 6 der Einheitlichen Europäischen Akte, der ersten umfassenden Änderung des Gründungsvertrags

5 Integration bedeutet Zussammenfügung von Teilen zu einem Ganzen, und zwar sowohl den Prozess als auch das Ergebnis
6 Gemäß Art. 48 EUV

7 Art. 236 EWGV 

8 Trial and error = Versuch und Irrtum, eine auch in Wissenschaften erprobte Methode, eine Lösung durch Ausprobieren mehrerer Möglichkeiten zu finden. In der europäischen Gesetzgebung (gem. Art. 294 AEUV) darf nur die Kommission Entwürfe für neue Gesetze vorlegen (offizielle Bezeichnung dafür: Vorschlag), die Kommission darf jedoch nicht darüber entscheiden. Über jeden Vorschlag der Kommmission entscheiden EP und Rat gemeinsam (als Gesetzgeber), jedoch können weder EP noch Rat Entwürfe für Gesetze zur Beratung vorlegen. Auf diese Weise wird vermieden, dass Mitgliedtaaten Gesetzentwürfe vorlegen, die hauptsächlich ihren eigenen nationalen Interessen dienen

9 Art. 4 Abs. 1 des Ratsbeschlusses 70/234/EGKS, EWG, Euratom)

10 Amtsblatt der EG Nr. 89/1 vom 22. 4. 1975

11 Vertrag zu Änderung bestimmter Finanzvorschriften der Verträge zur Gründung der Europäischen Gemeinschaften vom 22. Juli 1975, in Kraft getreten am 1. Juli 1977

12 Formulierung aus dem geänderten Art. 203, Abs. 4 EWGV

13 Rechtsgrundlage war der Akt zur Einführung allgemeiner unmittelbarer Wahlen der Abgeordneten des Europäischen Parlaments vom 20. September 1976

14 1973 waren Dänemark, Irland und Großbritannien beigetreten

15 Durch die Einheitliche Europäische Akte

16 Art. 6 EEA, der die Art. 7, 49 und 54, 56, 57 und 149 EWG änderte

17 Im Maastrichter Vertrag, unterzeichnet am 7. Februar 1992, in Kraft getreten am 1. November 1993

18 Art. 189b EGV (Maastricht), später Art. 251 EGV, heute Art. 294 AEUV

19 In Protokollen zum Vertrag von Maastricht wurde Dänemark und Großbritannien u. a. das Recht eingeräumt, selbst zu bestimmen, ob sie der Währungsunion (dem Euro-Raum) beitreten wollen oder nicht. Die Protokolle haben die selbe Rechtsgültigkeit wie der Vertrag

20 Dem Vertrag von Lissabon (in Kraft seit 2009) wurde ein „Protokoll über die Rolle der nationalen Parlamente in der Europäischen Union“ angefügt, um ihnen (wie es in der Präambel heißt) bessere Möglichkeiten zu geben, sich zu den Entwürfen von Gesetzgebungsakten der EU zu äußern und ihre stärkere Beteiligung an den Tätigkeiten der Union zu fördern

Link zurück zum Kapitel Souveränität